Was Ostern mit Anti-Semitismus zu tun hat


Lucas Cranach d. Ä. - Kreuzigung Christi, 1501 - gemeinfrei


Anstatt wie sonst die Kar- und Ostertage bei meiner Familie zu verbringen, bleibe ich dieses Jahr in München - ich darf nämlich endlich wieder Musikerin sein. Meine Kirchengemeinde (in der ich im Chor singe) führt zum Karfreitag die Johannespassion von Heinrich Schütz auf. Dazu singen der Pfarrer, weitere ProfimusikerInnen sowie einige fähige Laien/Laiinnen (zu denen ich gehöre) die gesamte Passion (etwa 40 Minuten Nettospielzeit, Gottesdienstzeit kommt hinzu).

Ich bereite mich gewissenhaft mit CD-Aufnahmen hören und alleine üben auf diesen Auftritt vor. Schließlich will ich mir vor den Profis keine Blöße geben und vor allem nicht die Proben unnötig in die Länge ziehen (drei Samstage à 5 Stunden gehen dafür drauf). Abgesehen davon macht es mir großen Spaß, ausnahmsweise anspruchsvollere Literatur zu singen. Die Spatzenmesse kann man nur ein paar Mal machen, ohne die Lust daran zu verlieren.

Da nicht mehr so viele dem christlichen Mythos nahe stehen, erkläre ich kurz was in der Leidensgeschichte Jesu Christi nach der Fassung des Johannes passiert: Nachdem Jesus mit seinen JüngerInnen (?) das letzte Abendmahl gefeiert hat, geht er auf den Ölberg zum Beten. Judas, der zum Sprichwort gewordene Verräter, hat den Behörden einen heißen Tipp gegeben - Jesus wird verhaftet, Judas freut sich über 30 Silbertaler (aber nur kurz, dann holen ihn die Schuldgefühle ein und SPOILER er erhängt sich).

Jesus wird vor Gericht gestellt, befragt von den Hohenpriestern, also den obersten geistlichen Mächten im Judentum, die ihn für schuldig befinden. Grund: Er hat sich Sohn Gottes genannt, das ist nach ihrer Auffassung ein Verbrechen. Die Hohenpriester wollen ihn loswerden, aber sie dürfen ihn nicht hinrichten, weil ihnen das der Glaube verbietet. Außerdem würden sie durch einen Mord unrein - schlecht für das bevorstehende Hochfest Pascha/Ostern. Was tun, wenn man so unbedingt jemanden töten will? Sie bringen Jesus zum römischen Statthalter Pontius Pilatus (Palästina wird von den Römern verwaltet - antiker Kolonialismus), der ihn verurteilen soll.

Jesus wird wieder befragt, Pilatus findet nichts, was nach römischen Recht ein Todesurteil rechtfertigen würde. Pilatus versucht das Volk und die Hohenpriester zu beschwichtigen: Dieser Mensch sei unschuldig. Er bietet dem Mob an, einen Gefangenen freizulassen - eine übliche Sitte zum Pascha-/Osterfest im Judentum. Er stellt die Leute vor die Wahl: entweder Jesus oder Barrabas, einen Räuber. Die Meute überlegt nicht lange - sie will Barrabas frei und Jesus am Kreuz. Gleichzeitig bedrohen sie Pilatus, ihn als Nicht-Freund des Kaisers zu verpetzen, wenn er Jesus nicht kreuzigt. Weil der keinen Aufruhr haben möchte, gibt er schließlich nach, Jesus wird gekreuzigt - eine der schlimmsten und demütigendsten Arten, in der Antike jemanden hinzurichten.

Die Johannes-Passion von Schütz ist musikalisch hochinteressant - anders als Musik ab dem Barock wechseln munter die Tonarten und Modi in den Melodien der einzelnen Stimmen. Für moderne Ohren wirkt das mitunter chaotisch. Man muss sich an diese krude, rohe Musikalität des Vorbarock gewöhnen. Der Wortschatz ist altmodisch und bisweilen schwer zu verstehen. Schütz stellt den Aufruhr des Volkes in der Musik durch Polyphonie, fugenartige Sätze, sowie Rhythmus- und Tempowechsel hervorragend dar. Ich kann mir sofort vorstellen, wie eine aufgebrachte Menschenmasse einen unschuldigen Menschen lynchen will und alle manipulativen Tricks anwendet, um ihr Ziel zu erreichen.

Es ist von Schütz so gut gemacht, dass ich begann, das jüdische Volk im Musikstück zu verabscheuen.

*gasp*

Sofort schämte ich mich für diesen Gedanken. Wie konnte ich sowas nur denken und warum musste ich überhaupt daran denken? Es stellt sich heraus, dass Ostern sehr viel mit Anti-Semitismus zu tun hat.

Die Macht des österlichen Narrativs


Man muss sich vor Augen führen, wann die Geschichten über Jesus aufgeschrieben wurden, in welchem Kontext sie entstanden und welches Narrativ der Schreiber verfolgte. Vor knapp zweitausend Jahren war das Judentum in Palästina Mehrheitsreligion. Die UrchristInnen waren eine verfolgte Minderheit, sie wollten (und mussten) sich vom Mainstream abgrenzen. Gleichzeitig brauchte man als bedrohte Minorität eine Erzählung, die den Sinn des eigenen Leids, aber auch die eigene moralische Stärke (und Überlegenheit) demonstrieren sollte.  Jesus ist in der Story der Inbegriff des Helden, der sich für etwas Größeres, nämlich die Erlösung der Menschheit, opfert. Wenn er im Mythos das absolut Gute ist, muss ihm gegenüber das absolut Böse stehen - in diesem Kontext das gesamte Judentum. Es ist spießig, kleinlich und boshaft. In der Passionsgeschichte wird das umso deutlicher herausgearbeitet, wenn Jesus als einzelner Person eine überwältigende Schar von GegnerInnen gegenüber steht. Die Geschichte vom spirituellen Underdog, der Recht hat, erhielt sich über Jahrhunderte.

Jetzt stellt euch mal vor, eine Kultur erzählt über Jahrtausende (!) die Geschichte, wie schrecklich böse die jüdischen Menschen seien, und dass man selbst moralisch überlegen sei - da kann sich doch kein Mensch ernsthaft wundern, dass es Vorbehalte oder Hass gegen Juden gibt. Selbst wenn der Ursprung, nämlich die Leidensgeschichte Jesu, vergessen ist - die alten Mythen von Verlogenheit, Brunnenvergiftung und Kindermord leben weiter. Und sie beeinflussen den Umgang mit Menschen jüdischen Glaubens bis heute - entschieden negativ. Zum Vergleich: Wir werden seit gut 15 Jahren mit Horrorgeschichten von MuslimInnen überschwemmt und sehen die feindliche Stimmung aufflammen, wir sehen Mord und Totschlag an Menschen dieses Glaubens. Was tausende von Jahren anrichten können - quod erat demonstrandum.

Als die Geschichte aufgeschrieben wurde, sollte sie im Angesicht von systematischer Bedrohung von außen Trost spenden, stärken, Durchhalteparole sein. Heute würden wir sagen, sie diente dem Empowerment. Doch aus der bedrohten Minderheit wurde irgendwann Mehrheit und Staatsreligion, aus Underdogs wurden Privilegierte - die in zweitausend Jahren mehr als nur einmal ihre Macht für Judenpogrome und Sündenbockpolitik nutzten. Werden wir irgendwann klüger? Ich hoffe ja, dass irgendjemand in 100 Jahren auf unsere Zeit sieht, den Kopf schüttelt und ungläubig fragt, wie wir nur so barbarisch handeln konnten.

Das Schlusswort zum Dienstag hat Christopher Nolans Batman-Trilogie, die das ganze Dilemma perfekt zusammenfasst:

"You either die a hero or live long enough to see yourself become the villain."



Wer sich für die Johannes-Passion von Schütz interessiert, ist herzlich eingeladen: Der konzertante Gottesdienst mit vorbarocker Kirchenmusik findet am Karfreitag, den 6. April, um 15 Uhr in St. Ulrich in Laim statt. Kommt zeitig, denn die Kirche ist dorfkirchenmäßig klein!

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