Das Domino's am Ende der Welt - Geschichten von Fast Food

Ich liebe es, Fastfood-Restaurants zu besuchen. Nicht unbedingt des Essens wegen, sondern weil man dort der Durchschnittsbevölkerung am nächsten kommt. Unzensiert, ungeschönt, fettig, mit Jogginghosen und zerzausten Haaren erhält man einen kleinen Einblick in die Normalwelt eines Orts, wie er abseits der Touristenströme existiert. So auch diesmal: Island. Selfoss. Mai 2017.

shamelessly copied from Google Streetview. Domino's, Selfoss.

Eins kann ich sagen: Wir waren verdammt hungrig. Was seltsam war, weil wir den ganzen Tag nur sitzend im Auto verbracht hatten und unsere Runde über die Ringstraße auf Island drehten. Aber auch überwältigende Landschaften können müde und hungrig machen.


Es ist Freitagabend, wir sind in Selfoss gelandet und suchen ein Restaurant, ein Lokal, irgendwas, wo wir essen können. Die Suche gestaltet sich wie anno dazumal mit Maria und Josef: Sie fanden keine Herberge. Alle annehmbaren Restaurants sind rappelvoll und die Supermärkte geschlossen. Merke: Wenn du am Ende der Welt einen Supermarkt aufsuchen willst, komm vor sieben. Der Spruch mit den hochgeklappten Gehsteigen ist in einem 2000-Seelen-Ort wahrer, als dir lieb ist.

Wir fahren ziellos durch den Ort, nur geleitet vom Knurren unserer Mägen. Wir sind an einem Industriegebiet angelangt, das am Ende der Stadt liegt. Dann sage ich etwas, was ich sonst nie sagen würde: "Gehen wir zu Domino's." - "Solange es nicht Subway ist" tönt mir entgegen.

In meinem Leben habe ich zwei Wahrheiten gelernt:

1. Pizza geht immer. Selbst wenn sie nur OK ist, ist sie immer noch ziemlich gut.
2. Du gehst nicht zu Domino's, du endest dort.

Der Domino's in Selfoss ist an der HauptstraĂźe am Ende des Ortes angesiedelt. Daneben befindet sich direkt ein Subway, links wird er von einer Eisdiele flankiert. Wir betraten den Laden, der aus einem kleinen Verkaufsraum, einer groĂźen Theke und ein paar Sitzgelegenheiten bestand. Alles war in klinischem WeiĂź mit roten Akzenten gehalten und wirkte leicht abwischbar, aber wenig einladend.

Man muss sich das wie eine Saloon-Szene aus einem Western vorstellen: Wir, die Fremden, in verstaubten und verdreckten Outdoor-Klamotten, betreten den Raum. Eine fast feindliche Stimmung der anwesenden Gäste ist wahrnehmbar, sie mustern uns von oben bis unten. Wir scheinen keine Gefahr darzustellen, also widmen sie sich wieder ihrem Essen.

Y u take so long?? - via flickr

Als wir noch am Eingang stehen, kommt uns ein junger Kerl im Krokodilskostüm entgegen. Er hält sich Papiertücher ans blutige Gesicht. Sein Outfit ist schmutzig und blutverschmiert. Ein Domino's-Mitarbeiter leitet ihn hinaus, stützt ihn am Arm. Das Krokodil ist unsicher auf den Beinen. Drei weitere Krokodile stehen im Raum. Sie scheinen von ihrem Kumpanen kaum Notiz zu nehmen, ordern Pizzen und setzen sich an einen der freien Tische.

Wir studieren die Karte, die dankbarerweise auch auf Englisch existiert. Island ist nicht immer das märchenhafte Land der Feen, Elfen und Trolle. An vielen Orten fühlt es sich an wie ein Außenposten der USA. Nach einigem Hin und Her haben wir unsere Bestellung zusammen: Die beiden Jungs nehmen das 2-für-1-Angebot, Schwesterherz und ich teilen und eine große vegetarische Pizza. Wir geben unsere Bestellung auf, hinterlassen unsere Namen wie man das bei Starbucks auch tut, zahlen und warten.

Es ist still im Laden. Manchmal knirschen die Scharniere der Schwingtüren, wenn ein Pizzabote den Raum verlässt, schwer beladen mit Pizzen in Schutzhülle. Immer wieder kommen IsländerInnen rein, holen ihre Bestellung ab. Der Ofen brummt. Die Krokodile spielen mit ihren Smartphones, feixen miteinander. Der Abend ist mild, über zehn Grad. Ein richtig warmer Frühlingstag für isländische Verhältnisse.

Ich gehe schnell auf die Toilette am Ende des Gästeraums. Als ich die Tür öffne, muss ich kurz innehalten. Atme scharf ein und aus. Empfindlicheren Menschen böte sich dort ein Bild des Schreckens: Überall Blutspritzer, die Lichtschalter verschmiert mit blutigen Fingerabdrücken, Blutflecken am Boden notdürftig mit Papierhandtüchern bedeckt.

Nun bin ich, was Blut anbelangt, nicht zimperlich. Als gesunde Cis-Frau* in gebärfähigem Alter verliere ich mindestens die dreifache Menge jeden Monat. Vielleicht hat die Domino's-Atmosphäre inzwischen auch mich emotional gelähmt. Ich nehme wortlos ein paar Handtücher und wische notdürftig alles ab, was mit meiner Haut in Berührung kommen könnte.

Als ich fertig bin, ist es die Pizza noch lange nicht. Unsere männlichen Reisebegleiter haben ihre Bestellung schon erhalten. Auch die Krokodile sind mit dem Essen fertig. Eine Gruppe Amerikanerinnen betritt den Laden, sie sehen genervt aus, bevor sie überhaupt bestellt haben. Ihre Laune wird nicht besser: Vermutlich haben sie den Appetit verloren, als sie aufs Klo gegangen sind. Die Frau, die am dominantesten aussieht, geht an den Schalter und erklärt die Klo-Situation, all das Blut. Sie ist sichtlich angeekelt und entsetzt. Der Kassierer hört sich die Geschichte an - und arbeitet wortlos weiter.

Erst jetzt fällt mir auf: Niemand hinter der Theke redet, jede/r arbeitet schweigend vor sich hin. Kein freundliches Wort fällt, kein böses. Die Angestellten erinnern eher an SklavInnen auf einer Galeere denn an Service-MitarbeiterInnen.

"Kannst du nicht mal nachfragen, wo unsere Pizza bleibt?"

Schwesterherz unterbricht meinen Gedankengang von der weltweit prekären Situation der Geiseln in der Systemgastronomie. Sie klingt ungeduldig, zu Recht: Inzwischen warten wir schon 40 Minuten, die Jungs sind mit ihren Pizzen längst fertig. Ich seufze. Ich hasse es, meine Bedürfnisse durchzusetzen.

Vorsichtig schleiche ich zum Schalter und frage nach, wo unsere Bestellung bleibt. Der Kassierer dreht sich schweigend um und geht nach hinten. Lässt mich einfach stehen. Es gibt miesen Service und es gibt die Komplett-Vernachlässigung. Diesen Abend gibt es Letzteres. Nach einer Weile kommt er wieder. "Die KollegInnen haben die Pizza vergessen. Kommt gleich."

Sein Blick ist leer. Er sieht mich nicht an, er sieht durch mich hindurch. Er ist viel zu jung, um innerlich so tot zu sein. Die inhaltslosen Augen scheinen mich in einen Abgrund zu ziehen, in einen eisblauen Graben. Gletscherkalt ist es dort. Ich bekomme Angst, wende mich schnell ab. Ich setze mich zurĂĽck zu den anderen. Warte.

You're as cold as ice. photo by me.


"Han."

Das ist der Name, den ich angebe, wenn ich es Leuten besonders einfach machen will. (Und weil es an Han Solo erinnert, wie cool ist das denn? Aber menschliche Regungen sind an einem Ort wie Domino's fehl am Platze.) Der Ruf wirkt wie ein Befehl. Ich stehe ruckartig auf, gehe zur Theke. Der junge Kassierer drĂĽckt mir das Geld fĂĽr die Pizza in die Hand.  Meine Augen mĂĽssen so groĂź wie Medium-Pizzen sein. Was mache ich jetzt mit dem Geld?

"Sorry about that."

Seine Stimme klingt roboterhaft. Inzwischen glaube ich, dass ich von einem ausgefeilten Automaten bedient werde. Der teigige (haha) Hautton erinnert an Silikon, die strohblonden Haare unter seiner Baseball-Kappe an eine schlechte Perücke. Kriegen wir jetzt noch etwas zu essen? Hat sich die Sache mit der Re-Transaktion erledigt? Ich möchte ihn schütteln, ihn aus seiner zombie-artigen Existenz erlösen. Stattdessen nicke ich nur, stecke das Geld ein. Warte.

Nach weiteren zehn Minuten halte ich die Pizza in den Händen. Wir verlassen das Domino's wie in Trance, plötzlich sitzen wir wieder im Auto, Schwesterherz und ich hinten, der fettige Pizzakarton zwischen uns. Wie sind wir hierhin gekommen? Wir essen wortlos unser Abendessen.

"Wir haben jetzt drei Pizzen zum Preis von einer bekommen."

Mein Bruder bricht das Schweigen, sichtlich amĂĽsiert.

Ich kaue und grinse ein bisschen dabei.

"Achja, richtig. Haha. Ha."







*Edit: gemeint ist das biologische Geschlecht.

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