Dokumentation "Camp 14 - Total Control Zone" auf arte - einige Gedanken


(ich probiere gerade die neue Einbetten-Funktion von Getty Images aus. Interessant, dass in München und Pjöngjang fast die gleichen U-Bahnen fahren)


Gestern abend lief auf Arte eine sehenswerte Dokumentation über Camp 14 in Nordkorea, einem der schlimmsten Strafgefangenenlager des Landes. Shin Dong-Hyuk hat es 2005 geschafft, von dort zu fliehen. Anders als viele andere politische Gefangene kannte er aber nie ein Leben außerhalb, sondern er wurde im Camp geboren.

Wer es psychisch aushält, kann sich bis zum 12. März die Doku in der +ARTE Mediathek ansehen. Es gibt keine Überdramatisierung, aber auch keine Beschönigung. Opfer und Täter kommen zu Wort. Shin Dong-Hyuks Schilderungen vom Alltag im Lager werden zurückhaltend mit Animation in Szene gesetzt.

Ich habe dennoch Zeit gebraucht, um wieder in meiner Realität anzukommen. Einige Gedanken kamen mir bei meiner mentalen Nachbearbeitung des Gesehenen, die ich gerne mit euch teilen möchte.

Menschen degenerieren

Man würde meinen, den Leuten wäre es egal, ob sie im Lager sterben. Aber gerade dort entwickeln sie einen unfassbaren Überlebenswillen. Wenn man ihnen mit dem Tod droht, tun sie alles und gehorchen.
Die Aussage eines Wärters. Ich bin keine Biologin oder Psychologin, kann daher nur Gedankenexperimente machen. Was ich mir aber vorstellen kann: Ein Mensch ist in so einer aussichtslosen Situation zurückgeworfen auf seine biologischen Überlebensinstinkte. Jeder Organismus tut alles, um sein Leben zu erhalten, egal wie elend und fürchterlich dieses Leben sein mag. Das, was wir menschliches Verhalten nennen, ist in solchen Extremsituation allenfalls eine dünne Lackschicht, die einfach abplatzt. Was zum Vorschein kommt: ein rohes Leben.
Menschlichkeit muss man lernen - Shin Dong-Hyuk hat aus Naivität (wie er es nennt) seine eigene Mutter und seinen Bruder verraten und hat angesehen, wie sie hingerichtet wurden. Bei der Exekution damals hat er kein Mitleid oder gar Trauer verspürt. Woher auch? Woher sollte er wissen, wie Menschlichkeit und Familie funktionieren?

Essen ist wichtiger als Freiheit

Shin Dong-Hyuk kannte nichts anderes als die Grausamkeit und das Elend des Lagers. Nach eigener Aussage wusste er zwar, dass es noch eine Welt außerhalb gab, aber er konnte sich keine Vorstellung davon machen - er war ja nie draußen und hatte keine Vergleichsmöglichkeiten. Das ändert sich erst, als ein etwas älterer Gefangener anfängt, mit ihm zu arbeiten und ihm von "draußen" erzählt. Auch das ist für ihn nur mäßig interessant - was soll denn ein Bett sein? Erst, als der Mithäftling von einem Barbecue erzählt, wird es auch für Dong-Hyuk spannend - zum ersten Mal entsteht der Gedanke, dass er fliehen will: "Ich wollte raus. Aber nicht, um frei zu sein. Sondern um mich einmal mit Reis sattessen zu können."
Diese Art von Geschichte ist wenig heroisch, nicht hollywoodtauglich. Er will raus, weil er hungrig ist. Nicht weil er Ideale gehabt hätte.

Gib einem Menschen Macht - er/sie missbraucht sie

Nicht nur Shin Dong-Hyuk als Opfer kommt zu Wort - auch zwei Täter sprechen über das, was sie in  Lagern getan haben. Es ist ein erschütterndes Zeugnis der Grausamkeiten und beweist wiederum eindrücklich, was eine Diktatur in den Köpfen anrichten vermag: Mir gefror das Blut in den Adern, wie normal sie über Folter und Tötung der Häftlinge sprachen. Im Laufe des Interviews empfinden sie aber Scham oder zumindest Verwunderung über ihre Taten. Einer der Wärter betitelt sich rückblickend selbst als "Gestapo".
Wenn ich in einem totalitären Staat aufgewachsen wäre - hätte ich die Kraft gehabt, mich zu wehren? Hätte ich Macht gehabt, hätte ich sie missbraucht? Wir möchten meinen, dass wir uns klüger oder mutiger verhalten hätten. Aber wenn die Grausamkeit Normalität ist? Ich hätte mich vermutlich gefügt, egal ob auf Täter- oder Opferseite. Ich wäre mitgelaufen, um mein eigenes elendes Leben zu retten.

Die Macht des Gewohnten

"Ich möchte wieder zurück nach Nordkorea. Dorthin, wo ich aufgewachsen bin. Ich möchte mich dort als Kleinbauer mich ernähren", so erklärt es Shin Dong-Hyuk.
Dieser Mann schläft auf einem Teppich, seine Wohnung ist leer. Er scheint nicht einmal Stuhl und Tisch zu besitzen. Im Lager hatte seine Familie auch immer auf dem Betonboden geschlafen. Er konsumiert nicht, vielleicht, weil er das nie gelernt hat. Er will nach Hause. Zuhause, das ist für ihn Nordkorea und das Lager.
Ich kann mir nicht vorstellen, was für ein unglaublicher Kulturschock der Wechsel von Camp 14 zu Südkorea gewesen sein muss. Selten habe ich ein solches In-die-Welt-Geworfen-Sein bei einem Menschen gesehen. Dong-Hyuk hat oftmals einen abwesenden Blick - er ist physisch in der Welt der Freien, aber doch nicht richtig dort. Regelrecht schmerzhaft anzusehen ist diese Diskrepanz zwischen ihm und der Welt, wenn man ihn bei einer studentischen NGO in den USA sieht. Hier die lauten, extrovertierten, freien AmerikanerInnen, dort er - abwesend, fast teilnahmslos. Sie nehmen den Raum regelrecht in Besitz, während er sich hineinstiehlt.

Kapitalismus ist nicht toll, Freiheit eine Last

"Im Lager habe ich Folter und harte Arbeit erdulden müssen. Aber was mir hier das Leben schwer macht, ist das Geld. (...) In Südkorea dreht sich alles nur ums Geld. Ich habe im Lager nie einen Selbstmord gesehen, auch wenn das Leben dort hart und anstrengend war. Hier wird jeden Tag davon berichtet."
Vorher nannte ich unsere Welt die Welt der "Freien", aber stimmt das überhaupt? Was sagt Dong-Hyuks Überlegung über unser Wirtschaftssystem aus? Da ist jemand, der ist in der sprichwörtlichen Hölle auf Erden geboren und aufgewachsen. Dennoch sieht er das Problematische an "unserem" System.
Wenn man wie Dong-Hyuk mit ständiger Bedrohung und dauerndem Hunger lebt, kennt man nur ein Ziel: überleben, egal wie. Im Lager gibt es strenge, aber genaue Regeln, die zu einem gewissen Maß das Überleben sicherstellen. Aber draußen?
Wer nie in seinem Leben frei war, für den ist es hart, frei zu sein. Auch von "gewöhnlichen" Häftlingen hört man gelegentlich, dass sie nach ihrer Freilassung wieder zurück möchten. Freiheit ist eine Bürde - das Leben außerhalb von Gefängnismauern ist chaotisch, macht Angst. Niemand sagt einem, was man zu tun oder zu lassen hat. Entweder man schwimmt oder man geht unter. Wir kennen das Spiel, aber selbst dann ist es schwer - Selbstmorde und Depressionen sind möglicherweise ein Indiz.




Shin Dong-Hyuk ist nicht angekommen im Leben außerhalb. Wie auch? Seine prägendsten Jahre der Kindheit und Jugend hat er im Lager verbracht. Ob er jemals ankommen wird? Ob er glücklich oder wirklich frei sein wird? Ich bin mir nicht sicher.

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CONVERSATION

1 Kommentar/e:

  1. Hallo Yenhan,

    danke für den Artikel!
    Ich konnte den Film nur bis zur 40. Minute anschauen, danach habe ich es gelassen, um meine Psyche nicht zu überstrapazieren. Das, was Shin Dong-Hyuk schildert, finde ich zu schrecklich, dass ich es in allen Einzelheiten erfahren möchte.

    Mir war auch aufgefallen, dass die ehemaligen Lagerwärter von ihren Taten so sprechen, als sei es das Normalste der Welt. Ich finde es total deprimierend, was Erziehung/Machtausübung alles anrichten kann.

    Schöne Grüße
    Ko

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