Die Müslischüssel in der Küche.

Dies ist eine kleine Geschichte. Wovon sie handelt? Von Gedankenlosigkeit und Routine, von Nachlässigkeit und Chaos. Aber von vorn.

Nachdem ich die letzten zwei Tage krank zu Hause war, erschien ich gestern wieder zur Arbeit. Nicht dass ich mich so viel besser gefühlt hätte. Mein Pflichtgefühl schleifte mich ins Büro (verflucht seist du!). Wie gewöhnlich frühstückte ich an meinem Schreibtisch mein Müsli. Ich brauche mein Müsli am Morgen, anderenfalls bricht sich meine latente Misanthropie vollends Bahn. Ich aß und stellte die Schüssel beiseite, um weiterzuarbeiten.

Irgendwann kratzte mein Hals: Ein Reizhustenanfall bahnte sich an (ich hasse Reizhusten - lieber allen Schleim der Welt als dieses uneffektive, trockene Gehuste), also schnappte ich mir die Müslischüssel als Vorwand, um schnell vom Schreibtisch zu verschwinden und in der Heimlichkeit der Küche mir die Lunge aus dem Leib zu husten. Ich huste ungern vor anderen Menschen - ich mag niemanden stören und mit meinem siechen Körper belästigen. In der Küche standen zwei KollegInnen - kein Ort also für ungestörtes Leiden. In meiner Hustennot und mit hochrotem Kopf stellte ich die benutzte Schüssel schnell auf die Arbeitsfläche, anstatt sie gleich in die Spülmaschine zu räumen. Dann flüchtete ich mich auf das Damenklo daneben.

Gefühlte Stunden später kehrte ich an meinen Arbeitsplatz zurück. Die Müslischüssel stand immer noch neben der Spüle auf der Arbeitsfläche in der Küche. Eigentlich wollte ich sie nach dem Gehuste aufräumen, doch ich vergaß es und arbeitete stattdessen weiter. Kurz vor Feierabend war wütendes Fluchen zu hören, gefolgt von intensivem Geschirrklappern.

Was war passiert?

Nachdem ich meine Schüssel auf die Theke gestellt hatte, kamen nach und nach die übrigen KollegInnen und stellten auch ihr benutztes Geschirr auf die Arbeitsfläche. Der/die erste muss meine Schüssel stehen sehen haben, was ihn/sie zur Annahme verleitete, dass die Spülmaschine voll war. Und eine unglückliche Verkettung von verschmutztem Geschirr nahm ihren Lauf. Niemand - ich wiederhole: niemand - sah die Notwendigkeit nachzusehen, ob die Spülmaschine tatsächlich voll war oder gerade lief. Ausbaden musste es am Ende der Küchendienst.

Eine einzige dreckige Müslischüssel hatte es geschafft, unsere Büroküche in ein mittleres Chaos verwandeln. Das alles aufgrund von Nachlässigkeit (=ich), Herdentrieb und Automatismen (=alle). Niemand hat auch nur eine Sekunde sein Gehirn eingeschaltet. Und hier geht es verdammtnochmal nur um schmutziges Geschirr.


Wenn in dieser Woche des Endes des 2. Weltkriegs gedacht wurde (wir ignorieren einfach mal, dass zu jener Zeit Japan die Atombomben noch vor sich hatte), denke ich an mein unfreiwilliges Experiment mit meinen KollegInnen und der Müslischüssel. 


Die wenigsten Menschen damals waren hollywoodmäßig böse Überzeugungstäter. Nein, viele waren so wie wir heute: Manchmal unaufmerksam, automatisiert durch die alltägliche Routine und zu beschäftigt mit sich selbst, um den Dingen auf den Grund zu gehen und sich anders zu verhalten. Sie folgten einfach, weil sie sich kein eigenes Urteil bildeten oder erlaubten. Und am Ende waren Millionen Menschen tot.

Dass dieser Herdentrieb und die routinemäßige Alltagsignoranz auch heute noch in uns wohnen, zeigt die dreckige Müslischüssel. Es bedarf unserer beständigen Anstrengung, nicht in diese Gedankenlosigkeit zurückzufallen. Die wenigsten Menschen sind böse, aber alle Menschen sind gedankenlos (ich nehme mich nicht aus).

Klar ist es unbequem, ständig nachzuhaken, nachzusehen, sich selbst von der Wahrheit zu überzeugen. Aber es gehört zu einem mündigen, freien Menschen Kant'scher Lesart dazu. Das betrifft nicht nur den Umgang mit anderen Menschen, sondern auch den Umgang mit der Umwelt, mit Konsumgütern, mit Normen und Regeln.





Das Chaos ist oft nur eine dreckige Müslischüssel entfernt. 



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CONVERSATION

2 Kommentar/e:

  1. Routinemäßige Alltagsignoranz - ich habe mal Tagebücher einer Großtante gefunden, die 1930 eine frisch promovierte Berufsanfängerin war. Über die Jahre kann man da sehr gut verfolgen, wie sich die Naziideologie ganz allmählich in den Arbeitsalltag eingeschlichen hat, auch in den sogenannten Elfenbeintürmen der Wissenschaft.

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    1. Das ist hochinteressant! Damit hältst du ein Dokument in den Händen, in dem man die Banalität des Bösen nachverfolgen kann. Die Veränderungen kommen so schleichend, dass sich anscheinend keiner Gedanken macht :/

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